Leider ist der Begriff „Hyperpersonalisierung“ auf dem Weg sich als Fachbegriff zu etablieren. Dabei haben wir es mit typischem Marketing-Bullshit zu tun. Ein paar Gedanken dazu.
Anlässlich einer Keynote anlässlich des diesjährigen DDV-Treffens durfte ich den von Harald Henn und mir publizierten CEX Trendradar 2025 vorstellen. Eine unserer Erkenntnisse dabei: Der Begriff Hyperpersonalisierung ist Bullshit. So eine These löst unter den Anwesenden Direktmarketern Unruhe aus. Natürlich muss man das ein wenig begründen: Die Vorsilbe „hyper“ definiert der Duden folgendermaßen: Die Vorsilbe hyper- ist aus dem Griechischen entlehnt, verwandt mit dem lateinischen super und bedeutet „über, über … hinaus, übermäßig“, während hypo-, ebenfalls aus dem Griechischen stammend, verwandt mit lateinisch sub, die Bedeutung „unter, darunter“ hat. Eine Hyperpersonalisierung ist also eine „Übermässige Personalisierung“. Und das will gerade im deutschsprachigen Gebiet nun wirklich niemand.
Mutti ist schuld!
Vor Jahren sind wir – im Rahmen einer Auftragsforschung – einmal der Frage nachgegangen, warum Marketingmassnahmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz so unbeliebt seien. In etwa 100 Tiefeninterviews konnten wir einen kulturellen Zusammenhang feststellen. Mehr als zwei Drittel der Befragten hatten von Ihrer Mutter einmal den Satz gehört „Mach bloss nicht die Tür auf, wenn ein Fremder davor steht.“ Gefolgt von dem wunderbaren Satz „Der will Dir ja bloss was verkaufen“. Haben Sie auch sicherlich schon gehört.
Nun ist es heute einerseits recht selten, dass einer vor der Tür steht. Apokryphe missionierende Glaubensrichtungen mal ausgenommen. Ausserdem stelle ich mir immer wieder die Frage: „Was bitte ist denn so schlimm dran, wenn mir einer was verkaufen will. Der muss ja auch irgendwovon leben. Und ich kann ja Nein sagen.“ Und genau das fürchten wohl die meisten in der DACH-region, dass sie das nicht können. Und so ergibt sich kulturelles Unbehagen. Nun ist es ja , wie ausgeführt, der Haustürverkauf selten geworden. Er wurde durch das Telefonmarketing ersetzt, nachdem dieses weitgehend gesetzlich reguliert wurde, durch das E-Mail Marketing. Und das ist nach wie vor ja sehr erfolgreich und wird es – unserer Meinung nach – noch lange bleiben. Denn ist ein Mail relevant für mich, dann bewahre ich es auf und kaufe das angebotene Produkt, wenn ich es brauche. Masskonfektionierte Oberbekleidung, neue Automobile mit Stern oder Raute und Sonderangebote für Riesling – highly welcome.
Relevanz ist wichtig aber auch teuer!
Personalisierung hat also etwas mit Relevanz zu tun. Und die Relevanz steigt mit der Nutzung des zur Verfügung stehenden Wissens über den Kunden. Da man für eine manuell ausgelöste Personalisierung auf Basis vieler Kunden viele Mitarbeitende braucht, ist Personalisierung also teuer. Es sei denn man automatisiert. Da in den letzten Jahren viele Personalisierungsoptionen hinzugekommen sind, wie das Wissen um den präferierten Touchpoint (einige Marketer sprechen immer noch von „Kanälen“ auch so ein Bullshit), präferierte Produktoptionen oder die „klassischen“ soziodemographischen Daten, ist die Komplexität also gewachsen. Man geht davon aus, dass heute ca. 500x mehr Daten in Unternehmen mit funktionierenden CRM Systemen vorliegen, als noch vor zehn Jahren. Das war der Anlass für die Begrifflichkeit Marketing Automation, die wir im CEX Trendradar fünf Jahre lang als Trend untersucht haben.
Auch wir erkennen an, dass Personalisierung deutlich weiter geht als Marketing Automation. Wir verwenden daher den Begriff «Personalisation Automation». Dies spiegelt sehr viel besser wider, dass es nicht nur um die Marketing Automation, sondern ganz generell um die die personalisierte Automation entlang des gesamten Kundenlebenszyklus geht. Nach wir vor handelt es sich um Softwarelösungen, die Marketing-, Vertriebs- und Customer Service-Prozesse automatisieren und aus verschiedenen Modulen wie z.B. Datenbanken, dem Controlling, dem operativen Ausspielen von Content via diversen Touchpoints, der Steuerung von verschiedensten Workflows und einer CRM-Integration bestehen. Der wesentliche Unterschied zu CRM- oder Kampagnen-Management-Systemen besteht darin, dass der Ablauf einer Kampagne automatisiert und personalisiert auf der Basis definierter Regeln erfolgt. Streng genommen kann man nicht von Kampagnen im klassischen Sinn sprechen, da diese immer linear, in eine Richtung verlaufen: vom Unternehmen zum Kunden. Für unser Verständnis von Customer Experience sind Monologe jedoch nicht hilfreich. Insofern muss die Personalisation Automation Definition trennschärfer formuliert und zudem erweitert werden. Hier ist unsere Version:
Personalisierungs-Automation-Systeme sind Software-Lösungen, die für individuelle, personalisierte Kundendialoge eine End-to-End Unterstützung von datengesteuerten, automatisierten und personalisierten Interaktionen über verschiedene Kontaktpunkte ermöglichen und optimieren.
In unserem CEX-Trendradar erweitern wir also die klassische Definition der Personalisierung um Anwendungen im Vertrieb und in Customer Service und gehen von regelbasierten Dialogen aus. Der Ursprung der Technologie liegt im Marketing (Marketing Automation), aber ein ganzheitlicher Ansatz im Kundenmanagement muss den gesamten Kundenlebenszyklus umfassen. Analog zur Erweiterung des Anwendungsbereiches von Customer Data Plattformen ist uns hier eine End-to-End Betrachtung wichtig. Für Customer Experience Konzepte haben Personalisation Automation Systeme deshalb eine grosse Bedeutung, weil jeder Interessent oder Kunde personalisiert und individuell in Echtzeit angesprochen werden kann und will. Diese individuelle Ansprache, das Einbeziehen spezieller Affinitäten und die Berücksichtigung des Kontextes, aus dem der Kunde gerade agiert, sind Grundanforderungen von Customer Experience Konzepten. Ein Abschied also von der «Giesskannen-Strategie». 25 Jahre nach dem ersten Artikel von Don Peppers und Martha Rogers im Harvard Business Review wird «One-to-One» endlich möglich. Das zeigt die Realisationszeit von Trends. Ein wesentlicher Aspekt aus unserer Sicht ist die Möglichkeit mit diesen Systemen lernende Dialoge zwischen Kunde und Unternehmen zu gestalten. Auf die Reaktion des Kunden – beziehungsweise auch Nichtreaktion – kann das Personalisation Automation System wiederum mit neuen, individualisierten Ansprachen reagieren. Die festgelegten Regeln laufen für die Anwender in den Fachabteilungen dann quasi unsichtbar im Hintergrund ab. Und durch das Lernen kommen laufend neue Regeln dazu.
Was passiert gerade in diesem Bereich?
Um Customer Experience Ziele – also eine individuelle, kontextbezogene Ansprache – zu erreichen, ist die Anbindung an mehrere Systeme notwendig wie z.B. die Customer Data Platform, das CRM-System oder die Kunden- oder Vertriebsdatenbank. Ebenso ist eine Kopplung mit den Touchpoints notwendig, über die der Content ausgespielt werden soll. Auf der anderen Seite ist die Integration des Feedbacks der Kunden wichtig, um Ergebnisse der Kampagnen an den Touchpoints und Dialogstrecken messen zu können – auch, um auf Basis der Kundenreaktionen eine Anpassung des Contents entlang der Customer Journey an den Touchpoints vornehmen zu können; dynamische Personalisierung heisst der Fachbegriff. Zunehmend wird dabei der Content mit Hilfe von Generative AI im Zusammenspiel mit der Automation Software erstellt.
Die Systeme werden also auf der einen Seite immer «mächtiger» in Bezug auf den Funktionsumfang. Gleichzeitig schaffen es die Anbieter ihre Systeme so zu gestalten, dass die Fachanwender in einer Art strukturiert geführtem Dialog schrittweise von der Analyse des Kundenverhaltens, über die Content-Erstellung bis zur Ausführung und dem Controlling gelangen. Eine extreme Arbeits- und Zeitersparnis einerseits; eine Verlockung, die Systeme extensiv zu nutzen, andererseits.
Das ist eine Entwicklung, die uns ein wenig Sorge bereitet, auch deshalb, weil wir sehr viele, rein produktbasierte Personalisierungskampagnen sehen. Die nächsten Entwicklungsstufen hin zu kontextbezogenen und Job-to-be done bezogenen Personalisierungs-Konzepten werden in 2025 nur von wenigen Unternehmen genutzt, da die Voraussetzungen technologisch wie organisatorisch in den wenigsten Fällen gegeben sind.
Kunden reagieren grundsätzlich positiv auf personalisierte Ansprachen, und die Ansprachen zeigen auch betriebswirtschaftlich Wirkung. Unser Leuchtturm-Projekt «TransGourmet» ist ein Paradebeispiel – und sogar aus dem B2B Bereich.
Was wir in 2025 auf jeden Fall sehen und erleben werden, sind viele kreative Ansätze in den Personalisierungs-Kampagnen. Den Freiraum, den die Software-Systeme schaffen, indem sie von der Konzeptions- bis zur Analysephase vieles automatisieren, werden die Fachanwender zu nutzen wissen, um Neues auszuprobieren.
Wie entwickelt sich der Trend?
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Kunden von der Personalisierung drei Dinge erwarten: die Anerkennung ihres Wertes für das Unternehmen, die Unterstützung bei der Nutzung der von ihnen gekauften Produkte und die Empfehlung besserer Lösungen. Wenn Kunden nach einer Lösung für eine bestimmte Aufgabe suchen, dann sollte eine personalisierte Kommunikation auf dem Weg zum Kauf nicht nur dazu beitragen, dass sie ihre Ziele besser erreichen (Job-to-be-done Ansatz), sondern auch die Wahrscheinlichkeit und den Wert ihrer Käufe für das Unternehmen erhöhen. Bis sich diese Erkenntnis als Massstab des Handelns in den Unternehmen durchsetzt, wird es noch ein wenig Zeit brauchen. Im Zusammenspiel mit Customer Analytics – und hier besonders aus den Erkenntnissen aus der Analyse unstrukturierter Daten – ist nach unserer Einschätzung jedoch eine gute Grundlage für die weiterhin dynamische Entwicklung des Trends gelegt. Die Technologie ist bereits auf hohem Stand. Anwenderfreundlich ist sie auch. In den kommenden Jahren werden wir durch AI eine Entwicklung hin zu dynamischer, kontextbezogener Personalisierung erleben. AI-gestützte kontextbezogene Personalisierung nutzt Echtzeitdaten und Algorithmen für maschinelles Lernen, um personalisierte Inhalte und Angebote bereitzustellen, die auf das Verhalten, die Vorlieben und die Bedürfnisse der einzelnen Nutzer zugeschnitten sind.
Zu den wichtigsten Entwicklungen gehört die dynamische Inhaltsanpassung. Damit ist die Erstellung von Inhalten gemeint, die sich an individuelle Benutzerpräferenzen anpasst. Predictive Analytics erlauben bessere, integrierte Vorhersagen: AI wird in der Lage sein, zukünftige Kundenaktionen auf der Grundlage historischer Daten zu prognostizieren und Kundenbedürfnisse vorherzusehen, so dass sich die Angebote und Ansprache optimieren lassen. Alles wird in Echtzeit ablaufen, was eine erhebliche Anforderung an das Management und die Steuerung darstellt. Personalisation Automation im Autopilot zu «fahren» ist verlockend, aber auch sehr risikoreich.
Gesamthaft gehen wir davon aus, dass in zwei Jahren das Stadium Standard erreicht wird.
Zurück zur «Hyperpersonalisierung»: man erkennt Marketing-Bullshit oft daran, dass diese Vorsilbe ohne Sinn und Verstand gebraucht wird. Was mich wirklich überrascht, ist, dass Marketers, wenn sie das merken, häufig versuchen, einen solchen Begriff im Nachhinein zu rationalisieren. Zeigt aber auch, welch erbärmlichen Sprachverstand einige Marketers haben. Dabei sollte Marketing sich gerade durch den sehr bewussten und präzisen Einsatz von Sprache auszeichnen. Denn ansonsten könnte sich das als Hypothek erweisen.