Danach wird einerseits aus der Sicht der Unternehmung überlegt, ob diese an einem persönlichen Dialog mit dem Kunden unter Service-Gesichtspunkten interessiert ist, weil sie etwas über ihre Produkte und Dienstleistungen lernen kann, sich dadurch Ideen für Einsparungen ergeben sowie, ob sich durch den Kontakt eine Chance ergibt, weitere Produkte oder Leistungen zu verkaufen oder eben nicht (wie offenbar Interdiscount!). Andererseits wird systematisch die Perspektive des Kunden auf den Servicekontakt eingenommen. Ist der Kunde wirklich an einem persönlichen Kontakt interessiert, weil er Antworten auf seine Fragen oder einen Rat bekommt und im Idealfall Geld sparen kann, oder sieht er gar keine Notwendigkeit, mit einem Unternehmen in Kontakt zu treten und empfindet den Kontakt als ärgerlich (wie beispielsweise ich)?
Besteht eine Interessendivergenz (hat also der Kunde ein hohes Interesse, eine Problemlösung zu erhalten, das Unternehmen schätzt diesen Kontakt vor allem als zusätzliche Kosten ein), sollte der Kontakt automatisiert werden. Das ist vor allem da spannend, wo Kunden immer wieder die gleichen Fragen stellen. In diesem Zusammenhang geht es häufig um das Verständnis der Funktionsweise von Produkten und Dienstleistungen, auch Self Service genannt. Die Royal Bank of Scotland (RBS) hat so beispielsweise zu den häufigsten Service-Vorfällen im Bereich des E-Banking unterhaltsame Erklärvideos produziert, die für den Kunden einen hohen Mehrwert darstellen. Ein anderer, in den letzten Monaten vieldiskutierter Ansatz, ist der Einsatz von Voice- oder Chatbots, wie ihn beispielsweise Swisscard AECS einsetzt, um einzelne Business Prozesse vollständig zu automatisieren. Über den Nutzen von Chatbots habe ich übrigens auf dieser Seite mit Sophie Hundertmark gesprochen.
Die Value-Irritant Matrix unterstützt jedoch auch im umgekehrten Fall, dass das Unternehmen darauf angewiesen ist, dass der Kunde einen Kontakt mit dem Unternehmen hat und beispielsweise im Hinblick auf Compliance-Vorgaben bestimmte Informationen preisgibt oder bestätigt. Derartige Kontakte empfinden Kunden häufig als lästig. Hier gilt es, die Kontakte, wie beispielsweise einen Check-In oder Teilkontakte eines Prozesses wie eine notwendige Identifikation des Kunden, möglichst zu vereinfachen. Die vielfältigen Ansätze in mehreren Branchen zum Online-Self-Onboarding zeigen den Erfolg solcher Ansätze. Gerade das internationale Wachstum von Finanz- unternehmen wie Revolut oder N26 zeigt auf, wie erfolgreich Unternehmen sein können, die gleichzeitig auf «Einfachheit» und «Automatisierung» setzen.
Doch wie kann ein Unternehmen nun konkret dieses Analyseinstrument einsetzen? Die meisten Kontaktanlässe kann man aus den operativen Contact Center Systemen herauslesen. Damit ist häufig auch klar, welche Kundenanliegen welche Kontaktvolumina verursacht. Doch gerade die Zuordnung zu den Quadran- ten ist firmenspezifisch. Beispiel gefällig? Während etwa eine Telekom- munikationsfirma eine Adressänderung durch den Kunden als einen primär kostengenerierenden Vorgang ein- schätzt, wird ein Versicherer seine Verkaufschancen sehen, da er ja dem Kunden eine Haushalts- oder Wertsachenversicherung verkaufen kann. Wichtig ist daher, die die Kosten- und Umsatztreiber des Unternehmens in der Tiefe zu verstehen. Gleichzeitig gilt es jedoch, auch die Sicht des Kunden und seine Einschätzung zur „Werthaltigkeit“ der einzelnen Dialoge des Unternehmens realistisch einschätzen zu können.
Wenn die Matrix einmal steht, kann ein Unternehmen für jeden Case der Eliminierung, Vereinfachung und Automation einen kostenbasierten Business Case berechnen. In Bezug auf die Ausschöpfung der werthaltigen Gespräche kann man abschätzen, welcher Mehrumsatz aus der zusätzlichen Gesprächszeit resultiert. Doch nun ergeben sich viele Fragen:
- Wie können Dialoge genau nutzenstiftender gestaltet werden? Wie sieht die verbesserte Customer Experience aus? (genau Interdiscount, denkt mal scharf nach!)
- Was passiert, wenn viele Anliegen deutlich weniger Manpower erfordern? Wo erfordern die verbleibenden Dialoge genau ein verändertes Skillprofil und damit Ausbildung?
- Welche prozessualen Veränderungen sind notwendig, um Dialoge, die sich aus Beschwerden ergeben, zu eliminieren? Wie können Closed Loop Prozesse tatsächlich geschaffen werden?
Der Wandel berührt also nicht nur Prozesse und Technik, sondern gerade auch die Menschen, die in diesem Change begleitet werden müssen, neue Fähigkeiten erlernen sollen oder neue Systeme bedienen können.